Wien ist Anders


Jahrzehntelang hat die Touristenwerbung behauptet: "Wien ist Anders!", ohne dieses Anderssein näher zu spezifizieren. Das hat sicherlich seinen Grund darin, dass es eigentlich darum geht, die Atmosphäre, also ein Gefühl zu vermitteln - und nicht statistische Fakten. Denn natürlich ist Wien eine Großstadt wie jede andere. Auf den Hauptverkehrsstraßen ist zur Stoßzeit Stau und in der U-Bahn herrscht Gedränge. Das ist in Berlin oder Paris genau dasselbe. Die Menschen haben es genauso eilig wie in Stockholm oder Hamburg und der Kommerz ist ebenso gewinnsüchtig wie in London.

Und dennoch ist Wien anders. Es mag schwer sein, aber ich werde versuchen, ein paar Dinge aufzuzeigen. Wien ist eine grüne Stadt. Die Innere Stadt, das Zentrum, ist im Prinzip von Parks und der Allee auf der Ringstraße umsäumt. Schönbrunn, Belvedere, Augarten und nicht zuletzt die Praterauen sind große Grünflächen - noch immer mitten in der Stadt. Schließlich gehört auch noch die Natur des Wienerwalds, vom Lainzer Tiergarten im Westen, bis zum Kahlen- und Bisamberg im Norden zum etwa 20 mal 20 Kilometer großen Stadtgebiet.

Der Silbersee im Dehnepark
Impressionistischer geht es gar nicht mehr
Am Donaukanal - 10 Minuten Fußweg vom Zentrum

Auch der Wiener braucht Bewegung. Aber man wird kaum einen Wiener sehen, der mit Schistöcken in der Hand im "Nordic Walking-Stil" herumrennt. Denn die Bewegung ist nur ein Nebeneffekt - eigentlich geht der Wiener zum Heurigen, der oft so praktisch am Stadtrand ein Stück bergauf liegt, sodass man die Bewegung als Entschuldigungsgrund für den Heurigenbesuch hat. Und der Heurige ist tatsächlich etwas, was Wien anders macht ...

Während der Heurige traditionell ist, kann Wien auch sehr innovativ sein. Der ständigen Überschwemmungsgefahr seitens der Donau müde, beschloss man in den Siebzigerjahren, eine zweite Donau zu bauen und erschuf damit gleichzeitig die Donauinsel. Letztere dient bei normalem Wasserstand hauptsächlich der Rekreation und jährlich Ende Juni dem Donauinselfest, einer dreitägigen (und -nächtlichen) Open-Air-Party, die ihresgleichen sucht. Auch hier ist Wien anders.

Und von wegen innovativ: An der Donauinsel vertäut liegt die "Bertha von Suttner", ein Schulschiff. Aha, denkt der Leser, ein Ausbildungsschiff für Matrosen und andere Seefahrer.

Weit gefehlt. Die Bertha beherbergt ein Gymnasium, also eine gewöhnliche Schule, mit Chemielabor und Erdkundeunterricht, Mathematik, einem Turnsaal und allem anderen, was dazugehört. Und das ist doch wirklich anders, abgesehen davon, dass die Schüler vermutlich auch Seekrankheit als Abwesenheitsgrund angeben können ...

Von der Donauinsel ist es nicht so weit zum Prater, dem einzigen, großen Vergnügungsfeld, das ich kenne, wo kein Eintritt erhoben wird. Das Riesenrad ist schließlich auch mehr als 100 Jahre älter als das Millennium-Wheel in London. Und wer braucht schon ein Disneyland, wenn man ganz nach Belieben und ohne lange Warteschlangen bei den Attraktionen mitmachen kann? Auch McDonalds hat dort nicht den Funken einer Chance gegen das Schweizerhaus, wo man das beste Budweiser Bier der Welt serviert (außer vielleicht in Budweis selbst). Hier ist Wien ganz bestimmt anders.

Eine imponierende Lösung fand man für den öffentlichen Verkehr - auch das geschah in den Siebzigerjahren - als man die Straßenbahnen und Busse ohne Schaffner durch die Stadt schickte und damit die Verantwortung den Fahrgästen überließ, ob sie nun für die Fahrt bezahlen wollten, oder nicht. Natürlich gibt es Stichproben - und wird man ertappt, kann es teuer werden.

Andererseits hat der Großteil der Fahrgäste ohnehin Monats- oder Jahreskarten. Die meisten anderen wollen sich keinen Unannehmlichkeiten aussetzen und kaufen ihre Fahrscheine. Und der kleine Prozentanteil der Schwarzfahrer kostet vermutlich entschieden weniger, als müsste man die Personalkosten für einen Schaffner pro Wagen tragen. Es ist also ein Gewinn für alle - nicht zuletzt weil der Verkehr schneller fließt. Man kann ja bei jeder Tür aus- und einsteigen.

Der Wiener ist weder träge noch dumm - aber er kann ein bisschen phlegmatisch wirken, weil er am liebsten seine Ruhe haben will. Er raunzt und schimpft zwar, aber er ist nicht besonders aggressiv. Daher liegt Wien auch am vierten Platz unter den Großstädten der Welt, was die Sicherheit betrifft. Vielleicht ist es aber auch das starke Selbstwertgefühl des Wieners, das ihn weniger aggressiv macht. Es kann im negativen Sinn als "mia san mia" (wir sind wir) auftreten, aber ebenso in einem übersehenden "Lass ihn nur - er versteht es nicht besser."

Das Rechthaberische kommt daher beim Wiener weniger zum Ausdruck, das braucht er nicht hervorzuheben. Er weiß ja, dass er recht hat. Und diese Zurückhaltung wird dann auch noch oft für Liebenswürdigkeit gehalten ...

Traditionellerweise denkt man auch an Kaffeehäuser und Musik, wenn man über Wien spricht. Nun ja, das Kaffeehaus an der nächsten Straßenecke ist noch imnmer ein Platz, wo man sich trifft und wo man relativ leicht Anschluss findet, wenn man in der Gegend neu ist. Beim dritten Besuch wird man vom Ober schon als Stammgast begrüßt (vorausgesetzt, dass man bei den vorigen Besuchen nicht auf das Trinkgeld vergessen hat) und beim fünften Besuch hat man schon ein paar Bekannte.
Leider führt aber unsere schnelllebige Zeit auch zu modernen "Cafés", wo man seinen Mocca im Stehen trinkt und dann weiterhastet. Das wiederum öffnet den Markt für Geschäftsketten wie "Starbucks" oder "Wayne's", obwohl diese mit ihrer Selbstbedienungsmentalität und ihrer betonten Geradlinigkeit ganz falsch am Platz sind.
Aber wenigstens die Torte im Hotel Sacher bleibt ein wohlgehütetes "Geheimnis", was die Zubereitung betrifft, obwohl sie von dort in alle Welt versandt wird.

Der Musik geht es heute noch besser als den Kaffeehäusern. Die "Schnellsiedekonzerte" für Touristen, die unter anderem in Schönbrunn angeboten werden, halten zwar höchstens B-Qualität, aber es gibt in Wien natürlich Veranstaltungen, die den allerhöchsten Ansprüchen genügen. Nicht zuletzt ist ja das Neujahrskonzert wirklich weltberümt und für die nächsten zehn Jahre ausgebucht.

Beim Kaffee und der Musik ist Wien jedoch nicht anders, sondern zweifellos sogar marktführend.

Auch was die Galanterie betrifft, ist Wien nicht so wie der Rest der Welt. Hier kann eine Dame ohne weiteres noch zu einem Handkuss kommen, auch wenn Sie mit der Person gar nicht näher bekannt ist. Mag sein, dass es heute vielleicht hauptsächlich nur mehr die ältere Generation ist, die Damen gegenüber noch wohlerzogen auftritt, oder aus einem ganz gewöhnlichen Herrn hux flux einen "Herrn Doktor" macht. Eine Wienerin beherrscht ebenfalls immer noch die Grazie, vor einer Tür zu warten, bis sie ihr von ihrer Begleitung aufgemacht wird, ohne dass sie dabei im Weg steht.
Auch das macht Wien anders - und ein wenig charmanter.

Zusammen mit dem Charm ist es aber auch die Grandezza der Kaiserzeit, die immer noch nachwirkt. Mag sein, dass man das für unzeitgemäß oder verschroben halten kann - Tatsache ist, dass Wien vor noch nicht einmal hundert Jahren die Hauptstadt eines Imperiums war.

Noch dazu in einem Imperium mit dem sich weder das relativ neugebildete Deutschland, noch - trotz aller Kolonien - Frankreich oder England messen konnten. Hier befand sich der Sitz der "EU vergangener Jahrhunderte".

Eigentlich fällt es ganz natürlich, dass das Straßenschild, das den Maria-Theresien-Platz bezeichnet, noch immer im Frakturstil zu betrachten ist. Und dass man im Garten eines Heurigen vielleicht sogar unter demselben Nussbaum sitzt, wie seinerzeit die Erzherzöge mit dem tragischen Schicksal - Rudolf und Franz Ferdinand - lädt ohne Zweifel dazu ein, den Wein mit historischen Vorzeichen ein wenig gedankenvoller zu genießen. Wo sonst?

Sie meinen, dass Wien einen großen Nachteil habe, weil es nicht an einem Wasser liegt, wo man baden kann? Die Stadt liegt natürlich an der Donau - aber dort ist das Wasser so schmutzig, dass dort keiner mehr baden will ...

Nun, die junge Dame, die man mitten in der Stadt in einer Badewanne vorfindet, während sie gleichzeitig eine Gesichtsmaske aufgelegt bekommt, hat das Problem auf ihre Art gelöst. Ein paar hundert Meter weiter kommt man zum Donaukanal. Früher hat man in einem Lied die "schräge Wiesen am Donaukanal" als die Riviera der Wiener besungen - heute ist das Wasser wirklich nicht mehr appetitlich. Aber in Wien findet man auch hier eine Lösung: Man verankert ein Badeschiff am Kai und hängt ein Freiwasserbecken daran, sodass man seinen Spaß und seine Abkühlung "im Wasser auf dem Wasser" haben kann.

Schließlich ist man sehr einsichtsvoll in Wien. Man hat längst eingesehen, dass es keinen Sinn hat, sich an die Hundebesitzer zu wenden, wenn es gilt, die Stoffwechselabfälle ihrer vierbeinigen Lieblinge nicht überall zu verstreuen - deshalb wendet man sich nunmehr an die Hunde direkt. Ist das nicht äußerst human?

Wien ist also anders - da kann kein Zweifel mehr bestehen, oder?


© Bernhard Kauntz, Västerås 2007



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Seite erstellt am 13.11.2007 by webmaster@werbeka.com