Der Wiener Prater


Ich habe das Glück, fünf Kinder zu haben. Ganz abgesehen von all der anderen Freude, das das mit sich führt, ist es ganz logisch, dass ich in meinem Leben zahlreiche Vergnügungsparks besucht habe. Für mich, der ich in Wien aufgewachsen bin, war es eine große Überraschung, dass man auf den meisten schon bezahlen muss, um überhaupt in die Nähe des Vergnügens zu kommen. Meinen Kindern spielte das wahrscheinlich weniger Rolle, aber ich dachte dann jedes Mal mit Bedauern an den Prater - wo das Gebiet nicht abgezäunt ist, wo der Zutritt frei ist und wo man jederzeit zwischen Autodromen und Lachkabinetten spazieren gehen kann, ohne schon am Einlass beraubt zu werden.

Der Prater umfasst eigentlich ein viel größeres Gebiet als den Vergnügungspark selbst. Das mehrere Quadratkilometer große Tiefland wurde ursprünglich als kaiserliches Jagdgebiet benutzt, bis Joseph II, der Sohn Maria Theresias, vor gut 200 Jahren den Prater dem Volk eröffnete. Erst da begann der Vergnügungspark, der richtigerweise "Wurstelprater" heißen muss, heranzuwachsen. Das Wort "Wurstel" ist eine Ableitung von "Hanswurst", einer Art tragikomischen Figur, dem Harlekin-Typ entsprechend. Ganz richtig ist es auch eine solche Figur, die das Patronat über das Vergnügunsfeld besitzt. Auf einem der offenen Plätze steht Calafatti, denn so heißt er, als Statue und hält Wacht.


Calafatti, der sein Land überwacht

Das Riesenrad - ein Symbol für den Prater
Aber lange bevor man ihm nahe kommt, sieht man das Riesenrad, das ebenfalls ein Symbol für den Prater geworden ist. Alle meine Kinder und vermutlich alle Kinder von Wien wissen, auf welcher Seite man in der Schnellbahn sitzen muss, um das Riesenrad erspähen zu können, wenn der Zug vorbeifährt.
Die Höhe des Glücks jedoch ist, wenn man dort aussteigen darf. Dort, am Praterstern, den man in späteren Jahren in ein nichtssagendes Wien Nord umgetauft hat. Ich nehme an, dass der globale Markt an dieser prosaischen Lagebezeichnung mehr Interesse hat - wozu also dann bei der Namensgebung an die verlorene Freude der Kinderherzen denken?
Genug jedoch - steigt man hier aus dem Zug und kommt aus dem Stationsgebäude heraus, wird das Auge sogleich von dem imponierenden, riesigen Rad beansprucht, das Ende des 19. Jahrhunderts erbaut wurde. Es ist 65 Meter hoch und seine Gondeln bestehen aus ausgedienten, uralten Straßenbahnwagen. In früheren Tagen hingen doppelt so viele am Riesenrad, aber das war vor dem zweiten Weltkrieg, der vor solch "kindischen" Einrichtungen auch nicht Halt machte - und auch das Riesenrad wurde niedergebrannt. Nachher, beim Wiederaufbau, ließ man aus Sicherheitsgründen jeden zweiten Platz leer.
Es gehört wohl nicht zu den meist atemberaubenden Abenteuern, mit dem Riesenrad zu fahren; in der etwa zehn Minuten dauernden Tour darf man eine Umdrehung lang mitfahren - aber von oben hat man eine schöne Aussicht über das Gebiet des Praters und über einen Teil der Stadt. Und dann beginnt der Spaß! Hochschaubahnen, Ringelspiele, Geisterbahnen gemischt mit Schießbuden, Spielhallen und Restaurants. Und noch viel mehr.

Wieder einmal stehen mir meine eigenen Erinnerungen vor Augen. Dort liegt das Autodrom, wo mein Freund und ich damit "gearbeitet" hatten, die leeren Wagen, die nach einer Fahrrunde von den Leuten wahllos übergeben worden waren, wieder an den Rand zu fahren. Wir machten das ohne Entgelt, denn der Lohn für unsere Bemühungen bestand darin, das Kleingeld aufzuklauben, das den Fahrern bei einem der heftigeren Zusammenstößen aus der Hosentasche gefallen war. (Durch die Erfahrung klug geworden, verwahre ich mein eigenes Geld an einer sicheren Stelle, wenn ich dort bin.) Diese Erinnerungen gehören zu den schlimmeren Jahren meiner Jugendzeit, aber wir machten es mit dem Einverständnis des Besitzers und schließlich brauchten wir ja ab und zu auch Geld für Zigaretten....


Hier gibt es Vergnügungen für jedes Alter

Besseres gibt es einfach nicht...
Eine andere Art, zu Geld zu kommen, waren die Flipper. Wir spielten dann einen Flipper auf sechs, sieben Freispiele hoch, die wir dann um den halben Preis verkauften. Kein Wunder, dass ich heute noch das Gefühl für Flipper im Blut habe. Das gehört zwar auch nicht zu meinen wichtigsten Erfahrungen im Leben, aber es ist ja ohne Zweifel so, dass ein Vergnügungspark nicht unbedingt die günstigsten Eigenschaften des Charakters eines Teenagers entwickelt, vorausgesetzt, dass er dort oft und allein seine Tage verbringt.
Aber es gibt auch andere Erinnerungen. Die Anzahl der Papierrosen, die ich im Laufe der Jahre einer meiner mehr oder weniger zufälligen weiblichen Gesellschaft geschossen habe, geht wohl in die Dutzende. Denn der Prater ist auch ein guter Boden für die Romantik, besonders während den späteren Stunden des Tages, wenn die Familien mit ihren Kleinkindern schon nach Hause gegangen sind.
Die dunklen, lauen Sommerabende nach einem heißen Tag sind wahrscheinlich das, was ich am meisten vermisse, seit ich nach Skandinavien gezogen bin. Nicht so sehr wegen der Romantik, die sprießt auch unter der Mitternachtssonne. Aber in Hemdärmeln im Freien sitzen zu können, in einem Gasthaus, das gutes Essen und ein kaltes Bier serviert und wo man über die Genüsse des Lebens philosophieren kann - das ist das höchste der Gefühle.
Es ist seit Jahrzehnten eine Tradition, dass wir den letzten Abend eines Urlaubs in Wien im Prater verbringen. Klar, teilweise ist es der Kinder wegen, aber auch mir wäre ein Wienbesuch nur unvollkommen, würden wir nicht den Abschluss im Schweizerhaus im Prater feiern. Eine ihrer ”Stelzn”, also eine gegrillte Schweinshaxe mit Senf und Kren schlägt mit Abstand die ausgesuchtesten Speisen diverser Luxusrestaurants - vom Bier gar nicht zu reden. Ich habe bisher ziemliche Mengen Bier an vielen verschiedenen Orten getrunken, aber dort gibt es das beste Bier, das ich kenne.

Bei diesen Besuchen wird es ja oft recht spät und die abschließende Runde im Vergnügungspark, wo jetzt die Neonlichter blinken und glänzen und die einzelnen Attraktionen in farbige Lichter tauchen, die wird für die Kinder zu einem neuen Höhepunkt. Sie sind oft um diese Zeit schon ziemlich müde, aber sie bekommen einen neuen Schimmer in ihren glitzernden Augen, sie werden von dieser neuartigen, unbekannten Welt fasziniert. Die suggestive, für den Prater typische Musik, zusammen mit dem Hintergrundslärm der Umgebung tragen auch zu dieser Stimmung bei. Manchmal wollen die Kinder gar nicht mehr irgendwo fahren, es genügt vollauf, dieses Wunder passiv zu genießen.
Und woran sollte ich mich, als Vater, lieber erinnern, als an die Worte meines Ältesten, als er, damals etwa neun oder zehn Jahre alt, auf dem Heimweg zu mir sagte: "Weißt du, Papa, das war der schönste Tag in meinem ganzen Leben."


Der Abschiedsblick

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