Die Calea Victoriei in Bukarest


Es ist unmöglich ein gerechtes Bild einer großen Stadt zu geben, wenn man nur als Tourist dorthin kommt. Daher habe ich mich entschieden, nur kleine Teile herauszugreifen. Die Calea Victoriei, die "Siegesstraße" ist einer davon. Sie beginnt am Piata Victoriei, also am Siegesplatz und führt bis ins Zentrum, wo sie am Piata Nationile Unite endet. Piata wird übrigens mit "ts" ausgesprochen, also wie das italienische Piazza. Als lateinische Sprache hat das Rumänische natürlich viele Gemeinsamkeiten mit Italienisch oder Spanisch.

Starker Verkehr herrscht am Piata Victoriei.
Rechts im Hintergrund das Regierungsgebäude.
Der Name kommt daher, dass das rumänische Militär über diese Straße in Bukarest einzog, nachdem man 1878 das osmanische Heer besiegt hatte.
Die Strecke zwischen den beiden Plätzen ist knappe drei Kilometer lang. Aber wir beginnen am Piata Victoriei, wo das Regierungsgebäude hervorsticht. Besonders nachts ist es schön beleuchtet. Seit 1990 ist hier der Sitz des Ministerpräsidenten und seiner Regierung. Während der Zeit von Ceausescu war es das Außenministerium.
Gleich am Anfang der Straße, linker Hand, notiert man ein Lokal der Raiffeisen Bank und wird daran erinnert, dass seit dem Fall des Kommunismus in Rumänien viel investiert wird, nicht zuletzt von österreichischer und deutscher Seite. Im Übrigen beginnt die Straße mit etwa zehnstöckigen - teilweise modernen - Häusern, in denen wohl diverse Büros untergebracht sind, sicher aber auch Wohnungen, worauf viele Balkons schließen lassen. Kurz darauf wird die Bebauung nur etwa halb so hoch und zeigt einen sehr gemischten Stil.

Ein Blick zurück zum Piata Victoriei.
Interessant sind die gerundeten Balkons.
Bestände aus dem 19. Jahrhundert mischen sich mit funktionalen Bauten der Sechzigerjahre und ultramodernen Häusern mit Glasfassaden. Noch ein Stückchen weiter sind die Häuser nur mehr ein- oder zweistöckig und teilweise ziemlich verfallen. Putz bröckelt ab und die Wände sind mit Graffitti beschmiert. Man muss Rumänien jedoch zugestehen, dass es unmöglich ist, die ganze Stadt auf einmal zu restaurieren, nicht einmal in zwanzig Jahren. Außerdem - und das ist äußerst positiv - sieht man gerade bei den älteren Beständen immer wieder Bäume vor oder zwischen den Häusern wachsen. Am Gehsteig rechter Hand sind im Abstand von etwa fünfzig Metern immer wieder Blumenarrangements angebracht.

Die vielen Parks und die Blumen
machen die Hitze erträglicher.
Nun kommen wir auch schon zum ersten Palast an der Straße. Es ist dies der frühere Cantacuzino Palast, der heute als Museum dient und für George Enescu eine Erinnerungsstätte bildet. George Enescu war einer der wichtigsten rumänischen Musiker, als Komponist, Pianist, Violinist und Dirigent tätig. Seit er sieben war, studierte er Musik an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien. 1891 gab das nur zehnjährige Wunderkind ein Konzert am Wiener Hof. Kein Wunder, dass man heute hier im Museum Konzerte und ähnliche musikalische Darbietungen abhält.

Der Cantacuzino Palast fällt durch
die muschelförmige Torüberdachung auf.
Das Mittelstück der Straße ist ziemlich uninteressant, mit relativ vielen Neubauten, die hauptsächlich als Bürohäuser verwendet werden und nicht nicht zuletzt oft als Investitionen ausländischer Firmen und Agenturen zustande gekommen sind. Jedoch auch hier besteht noch der Mischmasch, zusammen mit Häusern aus der Zeit des Kommunismus und auch älteren, solchen die noch unter der Herrschaft der Habsburger erbaut wurden.
Dann aber öffnet sich die Straße auf einen großen Platz, den Platz der Revolution. Rechter Hand sehen wir ein riesiges Gebäude, das sich bei näherem Hinsehen sogar als Königspalast entpuppt. Das heutige Rumänien besteht im Prinzip aus drei alten Fürstentümern: Moldau, Walachei und Siebenbürgen (auch Transylvanien genannt). Das Fürstentum Rumänien entstand, als es Alexandru Ioan Cuza im Jahr 1862 gelang, die Walachei und Moldau zu vereinen. Vier Jahre später wurde er jedoch mit Hilfe der Großmächte abgesetzt und Karl von Hohenzollern-Sigmaringen zum neuen Herrscher bestellt. Er wurde - als Carol I - der erste König Rumäniens.

Im mittleren Teil der Straße
gibt es nicht sehr viel zu sehen.
1914 folgte ihm sein Neffe, als Ferdinand I, auf dem Thron, der - im Gegensatz zu seinem Onkel - im ersten Weltkrieg die Entente unterstützte. Danach erhielt Rumänien auch das Fürstentum Siebenbürgen. 1927 sollte Kronprinz Karl König werden, aber man zwang ihn, wegen mehreren Skandalen in seinem Liebesleben, zugunsten seines minderjährigen Sohnes, Mihai I, zum Thronverzicht. Drei Jahre später kehrte er reuevoll zurück und löste dann als Carol II seinen mittlerweile achtjährigen Sohn ab. 1940 dankte er - diesmal aus eigenem Willen, nach außenpolitischen Fehlschlägen - wieder zugunsten seines Sohnes - ab.
Der Königspalast ist heute
das nationale Kunstmuseum Rumäniens.
Dieser regierte dann bis 1947, als Rumänien eine Volksrepublik wurde.
Der heutige Palast wurde erst in den Jahren 1935 - 1937 errichtet. An seiner Stelle befand sich ein alter Palast, dessen Mittelteil 1926 von einem Feuer stark beschädigt wurde. 1935 wurde er schließlich abgerissen. Heute dient der ehemalige Königspalast als Kunstmuseum.
Gegenüber vom Königspalast steht das Athenäum. Das ist das wichtigste Konzerthaus des Landes, wo auch die "George Enescu Philharmoniker" ihren festen Standpunkt haben. Das Athenäum wurde 1888 eingeweiht, wenngleich die Bauzeit bis 1897 dauerte.

Das Athenäum ist das wichtigste
musikalische Zentrum Rumäniens.
Die goldenen Porträts zwischen den Säulen stellen bedeutende Fürsten aus der rumänischen Geschichte dar.
Noch am selben Platz befindet sich ein weiteres imposantes Gebäude, nämlich die Universitätsbibliothek. Sie wurde von König Carol I gegründet und trägt auch heute noch seinen Namen. Außerdem steht ein Reiterstandbild dieses Königs vor dem Haus. Das Haus wurde 1895 eingeweiht und überstand zwei Weltkriege. Jedoch im Zug der Revolution 1989 wurde die Bibliothek angezündet (!) und 500.000 - eine halbe Million (!) - Bücher, sowie 3700 Handschriften verbrannten.

Die Universitätsbibliothek wurde 1989 - als revolutionäre Handlung - angezündet. Dadurch wurde eine halbe Million Bücher zerstört.
Es wäre vielleicht besser, den Platz der Revolution in den "Platz der verbrannten Bücher" umzutaufen, als Mahnmal. Andererseits - wann haben Mahnmale schon jemals genützt?
Auch die Kretzulescukirche musste nach der Revolution restauriert werden. Wir finden sie rechter Hand im Anschluss an der Platz der Revolution. Die rumänisch-orthodoxe Kirche wurde 1722 eingeweiht.
Rumänien ist ein Land der Kirchen. Die Mehrzahl der Einwohner sind rumänisch-orthodoxen Glaubens, während der Rest, etwa 11 Prozent, entweder evangelischer oder katholischer Konfession ist. Übrige Glaubensbekenntnisse machen zusammen weniger als ein Prozent aus.
Traditionsgemäß bekreuzigen sich Gläubige, wenn sie an einer Kirche vorbeikommen. Bei einzelnen Menschen fällt das kaum auf, aber wenn man zum Beispiel von außen einen Autobus an einer Kirche vorbeifahren sieht, kann das recht komisch aussehen, wenn die Hälfte der Passagiere gleichzeitig ein Kreuz schlägt.

Die Kretzulescukirche ist ein wenig anders
- und daher ziemlich auffallend.
Bei drei verschiedenen Glaubensrichtungen muss es viele Kirchen geben. Das sieht man am Land noch stärker, wenn in einem kleinen Dorf zwei, oder sogar drei Kirchen stehen. Alle sind zwar Christen, aber die Nächstenliebe geht anscheinend nicht so weit, dass man auch eine Kirche teilen könnte ...
An der nächsten Straßenecke gibt es wieder etwas, das ins Auge sticht, nämlich die Fassade des Novotel. Es ist ein großartiger Einfall, den Vorbau im alten Stil zu belassen und dann die Glasfassade des neuen Hotels als Kontrast dahinter zu bauen.
Wir befinden uns jetzt schon ziemlich im Zentrum der Stadt. Hier ist eventueller älterer Baubestand renoviert. Seit dem Platz der Revolution gibt es keine verfallenen Gebäude mehr zu sehen. Sicherlich gäbe es noch den einen oder anderen Schönheitsfehler zu beheben, aber da gibt es wirklich viele andere Dinge, die wichtiger sind.
An der nächsten Straßenecke treffen wir auf den Boulevard Regina Elisabeta, eine wichtige Querstraße.

Die Fassade des Novoltels
ist ein Vorbild von Kreativität.
Dort steht auch der Palast des Cercul Militar National, ein Offizierskasino, dessen Terrasse und Restaurant heute von allen besucht werden kann, während früher das ganze Gebäude nur hochrangigen Offizieren vorbehalten war. Das Haus wurde 1911 erbaut.
Wir überqueren den Boulevard und folgen der Victoriei-Straße. Ein Stück weiter finden wir das Gebäude der städtischen Polizei. Wie in vielen anderen Ländern ist die Polizeigewalt auf mehrere Organisationen verteilt. So gibt es auch eine staatliche Polizei, eine Gendarmerie und Gott weiß, was noch.

Der Cercul Militar National
war früher nur hohen Offizieren zugänglich.
Gegenüber der Polizeidirektion finden wir die Passage Villacrosse. Sie ist mit gelbem Glas überdacht und bietet Platz für Restaurants. Dann gehen wir rechts am modernen Finanzzentrum vorbei, dessen Fassade hauptsächlich aus blauem Glas besteht und sehen gleich danach ein imposantes Gebäude. Ein wenig irritiert stellt man fest, dass es einer Bank gehört, der CEC Bank. Man denkt schon an die hohen Gewinne der Banken von heute und dass sie es sich leisten können, solche Paläste zu kaufen. Aber man wird belehrt ... Dieses Gebäude wurde schon im Jahr 1900 als Verwaltungsgebäude dieser Bank erbaut.
Der Hauptsitz der CEC Bank,
dahinter das moderne Finanzzentrum.
Die "CEC" ist heute die einzige verstaatlichte Bank in Rumänien und unterhält besonders im ländlichen Raum viele Filialen, während sich neue, besonders ausländische, Banken nur dort ansiedeln, wo viel Geld zu machen ist.
Auf der anderen Straßenseite, der Bank gegenüber, befindet sich ein anderes, mächtiges Gebäude, nämlich das Historische Museum Rumäniens. Auf den Stiegen zur Haupthalle steht eine Statue, die beim ersten Anblick unbegreiflich erscheint. Ein nackter Mann steht hier, mit einem Wolf in den Händen. Zum Glück besagt das Schild am Sockel, dass es sich um Kaiser Traianus handelt. Traian war Kaiser im Jahr 106 unserer Zeitrechnung, als Rom das heutige Rumänien, damals Dakien, eroberte. Das erklärt den Mann und auch den Wolf, nachdem Rom der Sage nach von den Zwillingen Romulus und Remus gegründet wurde, die von einer Wölfin großgezogen worden waren. Aber warum ist der Kaiser nackt dargestellt? Nun, hätte er Kleidung oder gar eine Rüstung an, dann wäre die Botschaft eher, dass er den Dakern die römische Kultur aufzwingen will.

Der römische Kaiser Traian,
der den Dakern die römische Kultur bringt.
Aber wenn er völlig nackt dargestellt wird, dann ist er nicht gefährlich und die vorgestreckte Wölfin bedeutet, dass er die römische Art zu leben anbietet, dass er die Daker daran teilhaben lässt. Die abstehende Stange, die vom Hinterkopf der Wölfin ausgeht, soll an die Standarte der Daker erinnern, die den Dakischen Drachen darstellte.
Meine persönliche Deutung ist eher, dass die Stange dazu dienen sollte, den Wolf zu steuern. Damit hatten die Daker die Möglichkeit, die römischen Sitten anzupassen, indem sie die Richtung vorgeben konnten, in der die Wölfin ging. Wie dem auch sei, es erfordert ein wenig Nachdenken, um das Bild zu verstehen. Dass es bei der Bevölkerung nicht so gut ankam, sagt eigentlich mehr über die Menschen aus ...
Links hinter dem Museum beginnt die Fußgängerzone, die sich hinunterzieht bis zum Platz der Vereinten Nationen, wohin auch unsere Calea Victoriei führt und wo sie endet.

Der Piata Nationile Unite,
wo die Calea Victoriei beginnt, bzw. endet.

Copyright Bernhard Kauntz, Västerås 2015


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