Gut geschimpft ist auch erleichtert

Ich bin Wiener. In Wien ist das Schimpfen nicht nur ein Teil des Alltags, sondern wird von manchen Leuten sogar zur Kunst erhoben. Als ich neulich in Wien war, stand ich an einer Straßenkreuzung und wartete auf grünes Licht. Das bedeutete, dass die Autos vor mir gerade fahren durften. Nur hatte der erste Wagen in der linken Spur irgendwelche Probleme. Nun, wie löst man so ein Problem auf der ganzen Welt? Im Auto dahinter wird auf die Hupe gedrückt. Zuerst einmal kurz - tuut. Und wenn das nicht hilft, eben ein bisschen länger - tuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuut.
Auch das half nicht, sondern die Ampel schaltete um und ich konnte über die Straße gehen. Der Herr im zweiten Wagen der linken Spur musste jedoch weiter warten. Das strapazierte seine Nerven ein wenig, also stieg er aus, ging ein paar Schritte vor, klopfte ans Seitenfester seiner Vordermannes und fragte lautstark:
"Bist deppert, du terischa Hund, du bleda?"

Das ist an und für sich nichts Ungewöhnliches, wir sind ja schließlich in Wien. Aber dennoch gibt es Einiges zu sagen dazu.
Das Wort "deppert" ist natürlich mit dem "Depp" verwandt. Beide sind eher süddeutsch, auch wenn der Depp heute schon seinen Siegezug nach Norden eingeleitet hat. Beides leitet sich von "tappen" ab, was auf Unbeholfenheit zurückzuführen ist. Denken Sie nur an "im Dunklen tappen", dann verstehen Sie, was gemeint ist. Aber auch wenn jemand vorsichtig geht, dann "tappt" er sich voran. Dies zeigt sich heute zum Beispiel im Wort "ertappen".
Aber der Ausdruck "bist deppert" hat noch mehrere Feinheiten aufzuweisen. Wird nämlich das zweite Wort betont, dann stellt man die Frage nach der geistigen Gewandtheit seines Gegenübers. Betont man jedoch "bist" oder erweitert es sogar zu einem "bist du", dann wird es ein Ausdruck der Ungläubigkeit, in der das "du" sich nicht auf eine Person bezieht, sondern nur verstärkend wirkt. "Bist du deppert" ersetzt also ein "ich kann es kaum glauben", wenn der Gesprächspartner mit einer unwahrscheinlichen Aussage kommt.
Unser Autofahrer betonte jedoch unzweifelhaft den zweiten Teil des Ausdrucks, auch wenn er sicher überrascht war, dass der Kerl vor ihm nicht weggefahren war.

Der zweite Teil seines verbalen Ergusses ist ebenso erklärungsbedürftig. Ich weiß nicht, warum der Hund so abgewertet wird - er ist doch normalerweise ein ganz verträgliches Tier. Aber auch in der Hochsprache liegt ja manchmal "ein Hund begraben", wenn etwas faul an einer Sache ist. Diese ungerechte Abwertung überträgt sich eben auch auf den Beschimpften.
"Terisch" bezieht sich auf das Gehupe, das keinerlei Wirkung gezeigt hatte. Heute verwendet man das Wort als Ersatz für schwerhörig oder taub. Es leitet sich vom hochsprachlichen "töricht" ab, was ja so viel wie dumm oder einfältig bedeutet. Und nachdem das Opfer der Schimpftirade trotz des Hupens nicht weiterfuhr, weist dies ja deutlich auf seine Schwerhörigkeit.

Nachdem die einleitende Frage nach der Intelligenz aber nur theoretisch war, ist es deshalb sicherer, dass man sie gleich selbst beantwortet. "Bled" (blöd) ist ja ein Synonym zu dumm oder schwachsinnig. Interessant dabei ist, dass diese Bedeutung erst in moderner Zeit aufgekommen ist. Früher bedeutete blöd nämlich "schwach, zart, zaghaft". Das geht auch aus anderen germanischen Sprachen hervor. Heute noch ist das schwedische "blödig" gleichbedeutend mit weich oder empfindsam. Und auch das altenglische "blead" wies auf einen sanften oder furchtsamen Menschen hin.

Möglicherweise ist unser schimpfender Autofahrer jedoch nie über das Mittelalter hinausgekommen und fragte daher ganz freundlich: "Tappen Sie im Dunkeln, Sie schwerhöriger, zaghafter Mensch?"

Copyright Bernhard Kauntz, Västerås 2019



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15.12.2019 by webmaster@werbeka.com